Die im Standard verankerten Wesenszüge habe ich hier bereits zitiert.
Ich möchte gleich vorweg schicken, dass ich persönlich die Chessies für ganz normale Hunde halte und aber auch aus züchterischer Sicht der Meinung bin, dass eine Rasse auch in das soziale und kulturelle Umfeld passen muss, in das sie hineingezüchtet wird. Nun sind die Bedingungen, unter denen die Rasse entstand, sicher sehr verschieden von den heutigen mitteleuropäischen. Dennoch bin ich überzeugt, dass sich ein Chessie mit einem korrekten Wesen und seine Familie gemeinsam auch hierzulande unter bestimmten Bedingungen wohl fühlen können.
Wenn man den Versuch einer Beschreibung des Wesens des Chessies unternimmt, muss man berücksichtigen, dass die Unterschiede diesbezüglich vielleicht so groß sind wie die im Körperbau und in der Farbe. Es kann gut sein, dass man einen Chessie und z.B. einen Golden findet, die sich im Wesen ähnlicher sind als zwei verschiedene Chessies. Deswegen sind Verallgemeinerungen schwierig.
Dennoch gibt es wohl Merkmale, die auch durch die Entwicklung der Rasse erklärbar sind. Der Chessie ist nicht so sehr wie der Labrador als Gesellschaftsjagdhund entstanden, sondern eher als selbständig unter teils sehr harten Bedingungen jagender Hund, der oft weitere Aufgaben hatte wie z.B. das Bewachen von Haus und Hof. Zudem sind vielleicht auch durch die Einkreuzung der sehr nasenveranlagten Hounds bestimmte Charaktermerkmale mit beeinflusst. Und in der neueren Zeit entstand/ensteht ein Großteil der Weltpopulation unter Bedingungen, in denen Lautstärke als weniger problematisch angesehen wird. Inwiefern dagegen der breite Einsatz „moderner Ausbildungsinstrumente“ (Elektroreizgerät) in der Selektion eine Rolle spielen (angelegte Führigkeit ist nicht mehr so wichtig, weil man mittels der Geräte auch auf Entfernung kontrollieren kann), ist mir noch nicht wirklich klar.
Möglicherweise im Ergebnis dieser Entwicklungen werden dem Chessie nun einige „besondere“ Eigenschaften zugesprochen, darunter ein gewisser Schutztrieb, eine gewisse Dickköpfigkeit, verbunden mit besonderen Ansprüchen an das Training, eine Neigung zum unangemessenen Lautgeben und die Besonderheit, ein „Ein-Mann-Hund“ zu sein. Manche verbinden den Chessie auch mit Begriffen wie Aggressivität und Schärfe.
All dies, auch letzteres, mag es natürlich geben. Meine Erfahrungen sind aber andere. Ich habe Labradors und Golden gesehen, die lauter, dickköpfiger, weniger führig, territorialer sind als die Chessies, die ich kenne. Natürlich passen meine Chessies auf, aber es hält sich in gut kontrollierbaren Grenzen, Bruno z.B. hat im Verlauf einen Startlaut bei Prüfungen entwickelt während seine Schwester und Elli still sind. Meine Hunde haben sich stark gebunden und hören auch kaum auf andere Menschen, solange ich da bin (oder es bedarf einer entsprechenden Bestechung 😉 ). Aber ich kann sie jederzeit in andere Hände geben und dann „funktionieren“ sie prima.
Schön finde ich, dass meine Hunde gegenüber Fremden im Erstkontakt zunächst zurückhaltend und abwartend und dann, je nach Ansprache vorsichtig bis zudringlich sind. Insgesamt haben sie sich in unserer Familie auch als hervorragende Familienhunde erwiesen, die aber eines gewissen Maßes an Auslastung bedürfen.
Bei all dem darf man allerdings nicht vergessen, welch große Rolle die Ausbildung und Erziehung spielen. Vielleicht gibt es hier tatsächlich einige Unterschiede zu den durchschnittlichen Vertretern anderer Retrieverrassen. Möglicherweise braucht der Chessie eine etwas konsequentere, etwas überlegtere, variablere Ausbildung. Und vielleicht ist ein unerzogener und unausgelasteter Chessie auch schwieriger und evtl. gefährlicher als ein unerzogener Labrador. Aber dafür können diese Hunde nichts.
Ich denke, die genannten „Besonderheiten“ sind mit diesen Worten aus dem Standard gut beschrieben: „… anhänglichen beschützerischen Natur. Mut, Arbeitsfreudigkeit, Aufgewecktheit, Nase, Intelligenz, Liebe zum Wasser…“, wobei er gleichzeitig ein „ruhiges, situationsgerechtes Verhalten“ an den Tag legen soll.
All dies sind aber Eigenschaften, die andere Hunde auch haben und die ich weitgehend normal finde. Eher sind da andere Retrieverrassen häufig ungewöhnlich in ihrer Kritiklosigkeit und Distanzlosigkeit.
Einige dem Chessie oft zugeschriebene Eigenschaften, wie z.B. Aggressivität, Ängstlichkeit oder Nervosität, sind mit dem Standard nicht vereinbar und ganz klar nicht erwünscht, auch wenn sie mitunter toleriert oder sogar als typisch angesehen werden. Diesbezüglich scheint sich mir ein verfälschtes Bild in der Öffentlichkeit eingeprägt zu haben, dass vermutlich auf einzelne Individuen zurück geht, die diese Eigenschaften gezeigt haben. Wenn solche Eigenschaften auftreten, dann handelt es sich um bedauernswerte Wesensmängel, im Einzelfall auch mal um grobe Fehler in Haltung und Erziehung oder bei häufigem Auftreten um eine Fehlentwicklung in der Zucht, nicht aber um typische Eigenschaften.
Wesensmängel
Wesensmängel sind als solche aus züchterischer Sicht äußerst schwer einzuordnen. Dies liegt daran, dass „Wesen“ an sich schon eine hochgradig komplexe Angelegenheit ist. Schon der Versuch, einzelne Wesensmerkmale isoliert zu betrachten oder gar wissenschaftlich zu untersuchen, ist schwer, denn die verschiedenen Merkmale beeinflussen sich gegenseitig. Übergeordnete, globale Merkmale haben Auswirkung darauf, wie stark spezifischere Merkmale zur Ausprägung gelangen. Und es gibt nicht immer genaue, einvernehmliche Definitionen von Merkmalen bzw. ist deren genaue Abgrenzung voneinander nicht immer ganz klar.
Zudem ist das Wesen eines Hundes längst nicht nur Ausdruck seiner genetischen Ausstattung. Bis ein Welpenkäufer seinen Welpen nach Hause holt, hat dieser schon eine Menge Umwelterfahrungen gemacht, viel von seiner Mutter und gemeinsam mit seinen Geschwistern gelernt, dabei sensible Phasen durchlaufen, in denen ein prägungsähnliches Lernen stattfand und schließlich haben auch schon mehr oder weniger absichtliche Konditionierungen auf verschiedene Reize durch den Züchter, dessen Familie und andere Menschen stattgefunden.
Nicht zuletzt dürften die Bedingungen der Haltung und Erziehung in der neuen Familie und ggf. besondere Lebensereignisse einen Einfluss darauf haben, wie sich ein Hundewesen entwickelt.
Welche Anteile nun welche dieser o.g. genannten Bedingungen auf die Entwicklung des Hundewesens haben, ist eine weitere sehr schwer zu beantwortende Frage. Ich gehe davon aus, dass im Bereich der nicht-erblichen Bedingungen die Aufzuchtphase beim Züchter den größten Einfluss hat und deswegen ausgesprochen wichtig ist. Dies entbindet den Welpenkäufer jedoch nicht von der Verantwortung, die er für die weitere Entwicklung seines Hundes hat.
Dies bringt uns nun aber zu der züchterisch sehr wichtigen Frage nach der Erblichkeit von Wesensmerkmalen. Hierzu gibt es eine Reihe von Untersuchungen mittels Fragebögen an die Besitzer, mittels bestimmter Tests (u.a. schon bei Welpen) und mittels der Auswertung von Prüfungs- oder Wettkampfergebnissen. Gemeinsam ist diesen Untersuchnungen, dass Geschwister, Halbgeschwister, Eltern und Nachkommen in Bezug auf die jeweilige Fragestellung bzw. Hypothese miteinander verglichen werden. Dabei wird versucht, mögliche andere Einflussfaktoren durch das Design der Studie oder statistische Methoden gering zu halten. Dann wird aufwendige statistische Analyse betrieben und im Ergebnis erhält man schließlich Werte für den Grad der Erblichkeit von 0 (keine Erblichkeit) bis 1 (100% Erblichkeit).
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Ergebnisse in der Regel auf eine geringe bis mittlere Erblichkeit von Wesensmerkmalen hindeuten, aber:
– Dies ist bei einzelnen Merkmalen sehr verschieden ausgeprägt, so dass man kaum verallgemeinern kann.
– Verschiedene Rassen scheinen für einige Merkmale unterschiedliche Ergebnisse aufzuweisen, so dass man nicht zwanglos von einer Rasse auf die andere schließen kann.
Dass Charaktereigenschaften aber einer Erblichkeit unterliegen, daran besteht kein Zweifel. Wie sonst wäre die erfolgreiche Zucht auf verschiedenste Eigenschaften von Gebrauchshunderassen zu erklären?
Die geringere Erblichkeit dabei heißt nun aber nicht, dass Wesen in der Zucht keine Rolle spielt. Sie bedeutet, dass man wertvolle Eigenschaften nicht ganz so schnell verliert, selbst wenn man nicht auf sie achtet, sie aber, wenn sie einmal verloren sind, nicht so schnell wieder bekommt. Und ein problematisches Wesen ist evtl. nicht so schnell züchterisch zu beeinflussen, so es überhaupt einer Erblichkeit unterliegt.
Was bedeutet es nun für die Zucht, wenn ein Hund ein problematisches Wesen bzw. ungewünschte Eigenschaften aufweist? Nicht viel, denn es gibt einfach zu viele mögliche Gründe hierfür (s.o.). Wenn es aber in der Verwandtschaft mehrere Exemplare mit diesem Problem gibt, dann sollte in der Zucht darauf geachtet werden, wie man auch auf körperliche Mängel oder Gesundheitsprobleme achtet.
Und zur Abschreckung: